Das Haus
auf diesem Schwarz-Weiß-Bild bildet die Fassade für einen Moment aus der Mitte der 1960er. Etwas ist sichtbar, sehr vieles unsichtbar, was zu diesem Bild gehört und erzählbar wäre. Viele und lange Geschichten erregt das Bild, die mit dem Haus Münzgrabenstraße Nr. 114 zusammenhängen und den Menschen, die es bewohnt haben und bewohnen. Zwei von ihnen sind auf dem Bild sichtbar.
Das hübsche Mädchen in der Mitte mit den Zöpfen, mit dem Teddybären und der Trachtenjacke in den Händen, das ist meine Schwester Maria. Sie lächelt sehr freundlich in die Kamera, das tut sie heute noch gern. Ihr gehört jetzt das ganze Haus. Als Dank dafür, dass sie auf die Großtante schaute.
Die immer schwarz gekleidete und immer schlohweiße Tante Steffi wohnte damals in dem Haus, ihr Vater hatte es 1903 gekauft. Im Dachboden gibt es Kisten mit Dokumenten von diesem Urahnen, zusammen mit Marias Erinnerungen, darunter auch denen aus ursprünglich Tante Steffis Mund, erzählen sie über das Haus die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. Von Ausbeutung, Krieg, Überleben.
Die Tante Steffi auf dem Bild ist schon alt, sie ist in unseren Erinnerungen immer schon alt gewesen. Doch starb sie erst dreißig Jahre später in dem Haus. Die Großtante schaut nicht her, ihr Gesicht mit den wulstigen Lippen und den Brillen ist ganz dem Mädchen zugewandt, mit ihrem krummen Finger kratzt sie seinen Arm oder den Bauch des Teddys. Der war vielleicht ihr Geschenk.
Der Bub am Bild bin ich. Er schaut eher trotzig in die Kamera. Die Mundstellung deute ich heute als abweisend. Die Wolljacke – welche Farbe? ich erinnere mich nicht – ist gut zugeknöpft, auch der Hemdkragen bis obenhin. Auch die Schachtel unter dem Arm erzeugt einen Abstand. Wahrscheinlich war da mein Geschenk drin. Tante Steffi wurde dann später meine Firmpatin. Aufgezwungen, ich mochte diese Tante nicht, sie war mir unangenehm, unheimlich. Ich wollte mit ihr, mit dem Haus nichts zu tun haben. Hatte dann später auch nichts damit zu tun.
Als Volksschulkinder damals waren Maria und ich ein Pärchen. Nur vierzehn Monate treffen uns im Alter. Meine ersten Freundinnen bekam ich später von ihr. Als sie mit zwanzig zu Tante Steffi in das Haus in Graz zog, war das einer der Schritte der Trennung.
Mir fällt auf, dass die Tür des Hauses offen ist. Wir werden in den VW Käfer steigen (ganz links am Bildrand) und nach Villach fahren. Tante Steffi wird winken und dann gleich durch die offene Tür hineingehen und sich die steile, schmale Stiege hinaufschleppen. Der unsichtbare Fotograf ist unser Vater. Er ist in dem Haus geboren. Eine dramatische Sturzgeburt auf der steilen, schmalen Stiege am 5. Februar 1931. Tante Steffi war dabei. Warum erzählt sie, dass Onkel Julius sein kleines Brüderchen, als er es in Blut und Schleim erblickte, gleich entsorgen wollte? Das ist eine der finsteren Geschichten, zu denen es keine Bilder gibt.